Konzentration ist alles
(Rödermark, im Juni 1993. Mit Dank an Matthias Kreis fürs Korrekturlesen)

Ich werde nie die Neigung von Professoren verstehen, sich selbst zu verknoten. Da muß was filosofisches dahinterstecken, was esoterisches, theologisches, semiotisches, irgendwas, was mir zu hoch ist. Und die langhaarige Brünette, wegen der ich überhaupt nur in dieser Vorlesung bin, schwänzt auch schon wieder, wen wunderts. Der Hiwi gähnt und steckt einige an, die ihm dabei zusehen. Konzentration fällt schwer im übervollen Hörsaal und bei dieser dicken Luft. Dicht an dicht sitzen die Studis, wo bei ausreichendem Platz psychologisch korrekt immer mindestens ein Sitz Abstand bleibt zwischen zwei einander Fremden. Studierende des dritten Lebensalter füllen das vordere Drittel, in der Mitte die Normalos, und Richtung Rückwand dann die gescheiterten akademischen Existenzen, viel Interesse für den Stoff, und wenig für die Scheine. Das sind weit weniger als ein Drittel, heutzutage nimmt man sein Studium ernst, die Grammatik der Keilschrift der Sumerer, die hermeneutischen Aspekte im Artikel 16a des GRUNDGESETZes, die mathematischen Grundlagen der Apokalypse oder die besondere chemische Konsistenz eines Hitlerhirnes haben nicht zu interessieren, hier wird fürs Leben gelernt, für die ganz, ganz FREIE WIRTSCHAFT. Die Ellenbogen sind schon abgehärtet vom Kampf um Hausarbeitsthemen und Referate, die Instinkte geschult für den MARKT.

Das Gemurmel im Hörsaal klingt wie'n fernes Gewitter. Plötzlich ein Bersten, als hätte der Blitz endlich eingeschlagen, was war das, irgendein Geräusch. Nochmal. Hier wackelt doch was? Kraaach, die hölzerne Klappsitzfläche unter mir ists, sie gibt nach, prasselnd wie ein Wolkenbruch, kann doch nicht sein, weg bin ich. Über mir verschwindet nach und nach das Gemurmel der StudentInnen.

Falle ich? Fliege ich? Jetzt ist es völlig dunkel, völlig still, und wo oben und unten sind, weiß ich schon lang nicht mehr. Ich bin völlig empfindungslos, mein Körper muß auch verschwunden sein, ich bin nur noch ich oder was. So muß Wahnsinn sein, oder auch nicht. Kann ich einen Looping drehen? Einen Sturzflug stürzen, eine Rolle rollen? Woher soll ich das wissen, wenn ich Oben und Unten nicht weiß? Meine Augen, sind sie offen oder zu? Von der Stirne heiß. So'n Scheiß. Wie geht's?

2001, Odyssee unter der Uni. Die Unterwelt von Frankfurt. Ich wußte doch immer, das ist eine magische Stadt. Geht doch heim, ihr Prousts und Joyces, mit Paris und Dublin; dein Barcelona, Mendoza, kümmert mich einen Dreck, selbst das gnostische Turin, Fruttero, Lucentini und vor allem Eco, stürzt mich nur in literarischen Taumel. Hier bin ich Mensch, hier darf ich, nein? Wenn ich nur wüßte, wo und wann ich bin, meine Armbanduhr, liegt auf dem Tisch im Hörsaal, ich verliere auch mein Zeitgefühl, mal logisch denken jetzt. Irgendwelche Drogen? Kann nicht sein, heute nicht, gestern nicht, schon zu lange nicht. Was dann? Wo dann? Warum dann? Wann dann? Goldene Ws, so wie Wagner, Woycek oder Werkausgabe, wie Tom Waits, Alfred Wolf oder Willibald Wattwurm. Wie Wagnis. Und Wahnsinn, klar. Plötzlich Licht, in grün, gelblich, schimmernd wie Frühlingssonnenstrahlen durch Birkenlaub, reflektiert von ruhigen Wasserflächen, die nur von den Schwanzflossen schwebender Goldfische zart gekräuselt werden. Leicht dunstige Musik, driftender akustischer Nebel, macht mir die Ohren feucht, die ich jetzt wieder lokalisieren kann, links und rechts am Kopf, der mir zu schwellen scheint, kein Wunder. Ich meine, ein Grinsen zu sehen, dort auf dem Ast eines Baumes welchen Baumes?

Es wird wieder dunkel, dunkler als vorher, kann doch gar nicht sein, ich sehe weniger als nichts. Wie geht negatives Licht? Ein schwarzes Loch. Ich sehe nicht nur nichts, ich sehe negativ. Die Minushelligkeit saugt mir, Schicht für Schicht, die mühsam aufbewahrten Bilder von der Netzhaut, aus dem Kopf, all die Bilder, die ich aufbewahrenswert gehalten hatte. Alte Traumata und neue Lieben, meiner Schwester Selbstmord, erste Küsse, paradiesischer Sex und höllisch dunkle Verzweiflungen seh ich augenblickhaft wieder, dann sind sie weg, alle Bilder, nach und nach.

Still ists, stiller als vorher. Das kenn ich schon, jetzt geht's ans Hören, die Stille als Magnet. Die ersten Lieder, die, ach ja, die Mutter mir einst sang, der Rock'n'Roll, U2 The Cure Tom Waits, die Stones die Beatles, Beethoven, Brahms und Wagner, Goodman Basie Parker Dizzy alle weg, der Geierchor aus dem "Dschungelbuch", der Soundtrack von "Star Wars" und das Lied von Jacques Tati, der Folk der Blues der Jazz der Rock der Punk die Klassik. Die vollkommene Stille, die unerträgliche Leichtigkeit des Schweins, die Suche nach der verlorenen Maid, der leere Kopf, Stummfilm ohne Bild.

Wie soll das werden? denk ich. Nur noch denken, riechen, fühlen, taub und blind und stumm? Da streichen mir Duftwinde über den plötzlich nackten Körper, sag mir wo die Kleider sind?, tausend Finger, tausend Wohlgerüche, alles, was ich spüren und riechen kann auf einmal und ich weiß, als ich die tausend Brüste spüre auf meiner Brust und die zweitausend Lippen auf meinem Mund, die Schläge und Schrammen und natürlich auch mein Schwanz sich bäumt ein letztes Mal; ich weiß, es ist das letzte Mal, die hundert Parfums, die Millionen Gestänke meiner Welt verschwinden wie zuvor die Bilder und Geräusche verschwunden sind, und was kommt jetzt, taub und blind und stumm und geruchsstumpf und tastsinngelähmt?

Ich weiß noch, damals, damals, einst, vor ferner Zeit in lang vergangnem Land, wo Hasen friedlich Wölfe jagen und Milch mit Honig schmeckt wie Tee mit Rum, als Märchen noch Lügen waren und die Wahrheit auch, da wanderte ich einmal auf gewundenen Pfaden ins Gebirge, an Heiligen vorbei und Zwerge fliehend, zum Narren-auf-dem-Berg. Er riet mir schwache Glieder, empfahl mir starken Geist und sandt mich heim. Ich wanderte erneut, den Narren suchend, der-in-der-Wüste-wohnt, wo Warane Wunder wagen. Er riet mir starke Glieder, schwachen Geist und offne Augen, sandt mich heim. Die Hexe-im-Wald hielt mich auf, starken Geist und offne Augen fordernd, und nicht zuletzt ein starkes Glied. Sie nahm mir meinen rechten Fuß und sandt mich heim. Auf meiner Krücke hinkend, sah ich einen Bettler, der hockte auf dem Platz des Friedens in der Stadt der tausend Tore. Er nahm die Krücke zur Bezahlung, riet mir zum Verlust des Augenlichts und sandt mich heim. Den linken Arm gab ich der Wissenschaft, den rechten einer Liebsten, die Augen aß ich auf in Not, die Ohren fielen mir ab in Zeiten der Pest, als auch mein linkes Bein mich floh. Ich lag in einem Wassergraben, Frösche schwimmend in den Mund mir, die ich aß; die klaren Wasser schlürfend und zufrieden.

Die Zeiten ändern sich sagt Max der Riese. Welten liegen heut auf Eis, und Leute sind keine Menschen. Liebe. Liebe ist, laut Cartoonisten, wenn er ihr alles mögliche und sie ihm auch. Liebe ist furchtbar, wenn sie aufhörn soll, wenn sie nur stört, wenn alptraumleeres Vergessen besser wär als sehnsuchtsvolles Gedenken an bessre Zeiten.

Sehnsucht. Sehnsucht ist so ähnlich wie Entzug nur schlimmer. Erzähl das einem Junkie und er killt Dich vielleicht trotzdem nicht. Trotzdem. Doch. Nur wenige Stunden ohne Deinen mens sana in Deinem corpore sano, und ich bin dem Wahnsinn nah', zumal Du es bist, und Du bist Du und weder ich noch jemand sonst das heißt Du bist die Größte. Mit Dir reden mit Dir singen mit Dir lachen mit Dir tanzen mit Dir denken Dich küssen, mit Dir gehen laufen und fliegen, mit Dir vögeln und mit Dir schlafen, mit Dir mit Dir mit Dir. Und das soll aus sein? Hah! Ich weiß ich weiß: aberaber. Klar, Du mußt Du bleiben und ich ich sein, denn wenn ich Du wär, dann wärst Du gar nicht ich sondern er oder sie oder wirihrsie. IchDich - Dumichauch? Der Gewitterkopf des Großen Bären neigt ein wenig nach links, aber das macht nichts, er wird schon wieder gerade werden, bevor er abfällt. Aber die Zeiten ändern sich wirklich, sagt Max der Riese. Ich glaubs ihm ja, aber das tun sie schon seit Jahren, und kümmert sich jemand darum? Max hat Recht, es wird langsam Zeit daß aber das glaube ich nicht. Es wär doch schon ein Fortschritt, wenn aus

dieser Asche hier ein Phönix kühn entstiege
fliegend über Wolkentäler, Schattennächte meidend,
dem Pegasus den Kopf verdreh'nd.
Die Welt wär' bunter, heißer dann,
die Meereshöhen unvereint,
die Tälergipfel schwebten.

Des unverwandten Königs Gatte,
der auch noch eine Ratte hatte,
verfing sich in den Dornen.
Des Königs Gatten Untertan, der einen lecken Kahn bekam,

liebte einst eine Wundervolle Frau. Die Wundervolle Frau war Lichtmusikerin, Tag und Nacht spielte sie auf einem ihrer vielfältig imaginären Saiteninstrumente, dem Lasercello, der Violettviola, der Spinnwebvioline oder gar auf Kafkas Kontrabaß, den sie auch zärtlichst zu zupfen verstand. Klang war es für manche, andren schien es Licht, wieder andre hörten Dichtung, wenn sie ihre Hände rührte und Gedanken strömen ließ so hell wie Wahrheit. Tagaus, nachtein, tagein, nachtaus, Weisheit war um sie. Wann sie schlief, das war ein Rätsel einem jeden, der sie kannte:
ob sie vor lauter Tag die Nacht nicht spürte, ob Schönheit ihre Schlafgefühle bannte,
ob schicksalsschwangre Töne ihr - schockschwerenot - die Lust am Träumen raubten - unbekannt ist und war es bleibt es immerdar.

 
Es war tiefer Winter, und der verharschte Schnee von gestern knirschte mahnend unter unsren Füssen. In den kahlen Bäumen saßen aufgeplustert schwarze Raben und übten sich in Pleonasmen: Weißer Schnee war keine Selbstverständlichkeit in jener Zeit, auch heut, so weit, so gut. Nur Mut: Die Sonnenscheibe drang nur rötlichblaß durch schweren Himmel, doch dann zogen zögernd die dunkel dräuenden Wolken zur Seite, und schon schien schön die Sonne. Ihr schöner Schein trug     Helligkeit in jene Nacht, die als Tag verkleidet war. Dunkel war mir mein Ziel bewußt. Die Pistole in meiner Rechten umklammernd, bahnte ich mir einen Weg durch die Schneeverwehungen, den Wind im Gesicht, im Rücken stechende Blicke. Ohne meinen Kugelschreiber wäre ich verloren gewesen.

Ich traf sie auf einer menschenleeren Kreuzung, ein Cabrio fuhr grad vorbei. Sie fragte mich, wie spät es sei, ich sagte "zu", sie sagte mir zu, ich fragte sie "?", sie sagte zu. Ein Gewitterkopf fiel ab, der Schrei eines brünstigen Regenwurms durchdrang die naßfeuchte Luft, und ich schrak zusammen mit meiner Weggefährtin zusammen. Ein schwarzgekleideter Priester kam des Wegs, dessen goldenes Ansteckkreuz in der Wintersonne bedrohlich funkelte. Seine Augen waren von einem wasserhellen Blau, das selbst den dichten aufkommenden Nebel hier oben in den Hochlanden durchdrang. Die schwarzen Raben, die auf einem nahen Acker am Kadaver eines Pferdes pickten, schrien heisere Kampfansagen an nichts und nutz. "Eines Tages", sagte der Priester, "wird es soweit sein und ihr werdet zittern". Er fiel in einen Taumel und sprang in die Menge. "Die Wolken werden sich verfinstern", schrie er geifernd, "und die Sonne sich erhellen im Glanz von tausend echten Sternen". Er sprang in die Menge, der Priester, den entsetzten Gläubigen nachjagend, den jungen Mädchen die Röcke hebend, den Männern zwischen die Beine langend, den üppigen Müttern die Brüste begrapschend. Dabei predigte er kreischend weiter den Wahnsinn: "Funkelnde Augen überall und das Ende ist nah und Klauen die nach euch packen", während er einer minderjährigen Witwe ohne Namen Schande tat, "Stimmen, die euch nur noch das verraten, was ihr eh schon wißt und antworten, wie ihr es erwartet, weil ihr dumm seit seit allen zeiten dumm und unwissend und so naiv wie ein greises ungebornes kind im leib der mutter die ach ja ein lied mir dereinst sang und bischöfe werden euch steinigen peinigen und kathedralen bröckelnd auf euch herniedersegnen die moral unter sich begrabend und die orthographie unt die GroßkleinschreibuNk und daß alpHabet wird sich auflögdssen uhnEWbnd wiuird veDrschHwihhnkndem iXms HJtehdwqlk kjsgfd aiuzKHkuz fds kj hlkj VLi uzowreuhk äöfdiuzLKJHtre schreedlebett krükrü

Oxkredo brado klortesö,
Maredo gragob goink.
Stikbif schradfik retelkö,
submen schriedel seunk.
Schreedlebett", sagte er und ging seiner Wege.

Die Luft ist dick hier. Genau in diesem Hörsaal ist letzte Woche eine umgekippt, und ein paar Kommilitonen haben sie über Köpfe hinweg an die Open Air getragen. Der Prof war geschockt, seitdem läßt er immer die beiden Türen offen während der Vorlesung, mit Stühlen blockiert. Das soll nicht sein, eigentlich, normalerweise, wegen der Klimaanlage, aber so ist wenigstens ein Minimum an Zirkulation gewährleistet. Es wird nicht lang dauern, bis er anfängt, das zu vergessen; bis die Türen wieder immer öfter zu sind, zunächst die eine vielleicht, und dann erst beide. Dann wird erstmal Winter sein, und wenn es zum Anfang des Sommersemesters wieder stickig wird unterm Treibhaushimmel dieser Stadt; wenn wieder eine oder einer umkippt und mit blasser Haut und schlappen Gliedern rausgeschleppt wird, dann fällt ihm wieder ein, da war doch was, ach ja, die Türen. Es ist erst ein paar Tage her, daß über den Campus ein Nackter lief. Er wurde von der POLIZEI geschnappt. Als er behauptete, keinen PERSONALAUSWEIS bei sich zu tragen, wurden die Beamten drängend, doch weder in Ohr noch Nase noch ARSCHLOCH trug er das Plastikrechteck mit sich. Dann ist da noch einer, vielleicht ist es derselbe, der immer am Haupteingang vorbeiradelt, dort, wo vor der Uni die Stände stehn mit Billigbüchern, Schmuck und Tüchern, Schreibwaren und Haschpfeifen, und immer ruft, die Hände als Trichter vor den Mund gelegt: "Love- Sex, Love- Sex, Love- " und so weiter und soweiter undso weiter undsoweiter.
 

Die Bilder auf dieser Seite sind von Volker.

 

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