Die Kunst zu leben
1997 gab sich 1997 gab sich Uupis,
das Künstlerviertel der litauischen Hauptstadt Vilnius, eine
autonome Verfassung. Ein Bummel durch die baltische Fluxus-Kommune
Jeder hat das Recht, beim Fluss Vilnele zu leben,
und der Fluss Vilnele hat das Recht, an jedermann vorbeizufließen".
Das ist der erste Artikel der Verfassung von Uupis, der
seltsamsten Republik der Welt. Uupis heißt "jenseits
des Flusses": Die Vilnia, meist in der Verkleinerungsform
Vilnele genannt, trennt die selbst ernannte Künstlerrepublik
vom Rest der litauischen Hauptstadt Vilnius, bevor sie in die
breitere Neris mündet.
"Jeder hat das Recht, einzigartig zu sein",
Artikel 5. An der Brücke über die Vilnele steht ein
Schild: "Uupio Res Publika", Republik von Uupis
(sprich "Uschupis"). Darunter mehrere Verkehrszeichen:
Geschwindigkeitsbegrenzung 40 Stundenkilometer - mehr geben die
holprige Hauptstraße den Hang hinauf und die Nebengassen
nicht her. Ein blauer Smiley - "Lächeln geboten".
Eine stilisierte Mona Lisa - Künstler willkommen.
"Jeder hat das Recht, für seine eigene
Unwichtigkeit dankbar zu sein", Artikel 21. Das einstige
Arbeiterviertel Uupis, im 15. Jahrhundert entstanden, schlummerte
weiter, als der Rest von Vilnius sich schon für erste Touristen
in Pastellfarben warf. Die Wohnungen waren billig, Studenten und
Künstler zogen ein, alte Bewohner, Familien noch nicht aus.
Lange lag auf dem Hauptplatz auf einem Sockel ein Beton-Ei. Inzwischen
ist ein Bronzeengel geschlüpft, der die Wiedergeburt des
Stadtteils und ganz Osteuropas hinaustrompetet. Heute sind die
Wohnungen begehrt, die Preise hoch.
"Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein",
Artikel 12. Galerien, Antiquariate, Kunsthandwerk. Auch kleine
Nachbarschaftsläden, ein Florist, ein Friseur, eine Pizzeria.
Kunst an Mauern. Hinter einer schlichten Holztür: die Keramikergilde.
Junge Leute töpfern nach alten Mustern Kelche und Teller,
restaurieren hochherrschaftliche Kachelöfen. Ums Eck lädt
ein Schmuckhersteller in seine Hinterhof-Werkstatt. Die Straße
hinauf verkauft
ein Kunstschmied Haken und Ösen, Kaminbesteck und Türbeschläge.
Erste Läden
für schickes Interieur wirken fremd; Bernstein und Leinen,
drüben in der barocken Altstadt als Touristenköder allgegenwärtig,
fehlen. Wäscheleinen durchkreuzen Innenhöfe, Katzen
schlummern darunter; in einem Hof steht sogar eine Kirche.
Pariser Verhältnisse
"Jeder hat das Recht, seinen Geburtstag zu
feiern oder ihn nicht zu feiern", Artikel 26. Uupis
feiert am 1. April (oder lässt es). Dabei war die Unabhängigkeitserklärung
am 1. April 1997 kein Scherz. Nicht nur. Die Bewohner gründeten
sogar eine Armee, aber niemand hatte Angst vor dem Dutzend Unbewaffneter,
und so lösten die Streitkräfte sich wieder auf, erzählt
der Präsident der Republik gern, der Dichter, Regisseur und
Musiker Romas Lileikis. Das Uupio Kavine, ein Kneipen-Café
an der Vilnele, ist Regierungssitz und Parlament. Hier planen
die Nachbarn Feste, ernennen Ehrenbürger. Einer ist der Dalai
Lama; er war 2001 in Uupis.
"Jeder hat das Recht, missverstanden zu werden",
Artikel 34. Mit der Kopenhagener Hippie-Enklave Christiania wurde
Uupis verglichen, mit Havanna: Blödsinn. Eher Montmartre.
Für das Programm der Kulturhauptstadt Vilnius 2009, das längst
begonnen hat, haben sie sich hier ein Fest zu Ehren des Pariser
Künstlerviertels ausgedacht. Die Idee kommt aus dem Kulturministerium:
dem "Kunst-Inkubator" UMI. Den ganzen Juli über
lassen sich Künstler aus acht Ländern vom Geist Montmartres
inspirieren, zu schwimmenden Skulpturen, Bildern auf Heißluftballons,
finnischem Tango und Fluxus-Theater.
"Jeder hat das Recht, individuell zu sein".
Artikel 36. Der beste Weg, den überschaubaren Stadtteil zu
erkunden, ist bummeln. Vom Kaffee auf der Terrasse des Uupio
Kavine über den Platz mit dem Bronzeengel, in Werkstätten
und durch Torbögen, die Straße hoch zum Restaurant
Tores, das in Küche und Keller guten Durchschnitt, von der
Terrasse einen großartigen Blick über Vilnius bietet,
am schönsten zur Dämmerstunde. Und am besten bald: Nächstes
Jahr wird Litauen 1000 Jahre alt, wird Vilnius europäische
Kulturhauptstadt (zusammen mit Linz) - und wird auch Uupis
voller Touristen sein.
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