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Die Kunst zu leben. Užupis, Künstlerviertel der litauischen Hauptstadt Vilnius, Frankfurter Rundschau (Reise) vom 14. Juni 2008

Volker Schmidt

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Die Kunst zu leben

1997 gab sich 1997 gab sich Užupis, das Künstlerviertel der litauischen Hauptstadt Vilnius, eine autonome Verfassung. Ein Bummel durch die baltische Fluxus-Kommune

Jeder hat das Recht, beim Fluss Vilnele zu leben, und der Fluss Vilnele hat das Recht, an jedermann vorbeizufließen". Das ist der erste Artikel der Verfassung von Užupis, der seltsamsten Republik der Welt. Užupis heißt "jenseits des Flusses": Die Vilnia, meist in der Verkleinerungsform Vilnele genannt, trennt die selbst ernannte Künstlerrepublik vom Rest der litauischen Hauptstadt Vilnius, bevor sie in die breitere Neris mündet.

"Jeder hat das Recht, einzigartig zu sein", Artikel 5. An der Brücke über die Vilnele steht ein Schild: "Užupio Res Publika", Republik von Užupis (sprich "Uschupis"). Darunter mehrere Verkehrszeichen: Geschwindigkeitsbegrenzung 40 Stundenkilometer - mehr geben die holprige Hauptstraße den Hang hinauf und die Nebengassen nicht her. Ein blauer Smiley - "Lächeln geboten". Eine stilisierte Mona Lisa - Künstler willkommen.

"Jeder hat das Recht, für seine eigene Unwichtigkeit dankbar zu sein", Artikel 21. Das einstige Arbeiterviertel Užupis, im 15. Jahrhundert entstanden, schlummerte weiter, als der Rest von Vilnius sich schon für erste Touristen in Pastellfarben warf. Die Wohnungen waren billig, Studenten und Künstler zogen ein, alte Bewohner, Familien noch nicht aus. Lange lag auf dem Hauptplatz auf einem Sockel ein Beton-Ei. Inzwischen ist ein Bronzeengel geschlüpft, der die Wiedergeburt des Stadtteils und ganz Osteuropas hinaustrompetet. Heute sind die Wohnungen begehrt, die Preise hoch.

"Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein", Artikel 12. Galerien, Antiquariate, Kunsthandwerk. Auch kleine Nachbarschaftsläden, ein Florist, ein Friseur, eine Pizzeria. Kunst an Mauern. Hinter einer schlichten Holztür: die Keramikergilde. Junge Leute töpfern nach alten Mustern Kelche und Teller, restaurieren hochherrschaftliche Kachelöfen. Ums Eck lädt ein Schmuckhersteller in seine Hinterhof-Werkstatt. Die Straße hinauf verkauft
ein Kunstschmied Haken und Ösen, Kaminbesteck und Türbeschläge. Erste Läden
für schickes Interieur wirken fremd; Bernstein und Leinen, drüben in der barocken Altstadt als Touristenköder allgegenwärtig, fehlen. Wäscheleinen durchkreuzen Innenhöfe, Katzen schlummern darunter; in einem Hof steht sogar eine Kirche.

Pariser Verhältnisse

"Jeder hat das Recht, seinen Geburtstag zu feiern oder ihn nicht zu feiern", Artikel 26. Užupis feiert am 1. April (oder lässt es). Dabei war die Unabhängigkeitserklärung am 1. April 1997 kein Scherz. Nicht nur. Die Bewohner gründeten sogar eine Armee, aber niemand hatte Angst vor dem Dutzend Unbewaffneter, und so lösten die Streitkräfte sich wieder auf, erzählt der Präsident der Republik gern, der Dichter, Regisseur und Musiker Romas Lileikis. Das Užupio Kavine, ein Kneipen-Café an der Vilnele, ist Regierungssitz und Parlament. Hier planen die Nachbarn Feste, ernennen Ehrenbürger. Einer ist der Dalai Lama; er war 2001 in Užupis.

"Jeder hat das Recht, missverstanden zu werden", Artikel 34. Mit der Kopenhagener Hippie-Enklave Christiania wurde Užupis verglichen, mit Havanna: Blödsinn. Eher Montmartre. Für das Programm der Kulturhauptstadt Vilnius 2009, das längst begonnen hat, haben sie sich hier ein Fest zu Ehren des Pariser Künstlerviertels ausgedacht. Die Idee kommt aus dem Kulturministerium: dem "Kunst-Inkubator" UMI. Den ganzen Juli über lassen sich Künstler aus acht Ländern vom Geist Montmartres inspirieren, zu schwimmenden Skulpturen, Bildern auf Heißluftballons, finnischem Tango und Fluxus-Theater.

"Jeder hat das Recht, individuell zu sein". Artikel 36. Der beste Weg, den überschaubaren Stadtteil zu erkunden, ist bummeln. Vom Kaffee auf der Terrasse des Užupio Kavine über den Platz mit dem Bronzeengel, in Werkstätten und durch Torbögen, die Straße hoch zum Restaurant Tores, das in Küche und Keller guten Durchschnitt, von der Terrasse einen großartigen Blick über Vilnius bietet, am schönsten zur Dämmerstunde. Und am besten bald: Nächstes Jahr wird Litauen 1000 Jahre alt, wird Vilnius europäische
Kulturhauptstadt (zusammen mit Linz) - und wird auch Užupis voller Touristen sein.

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