Volker Schmidt Arbeitsproben


Die Sturmwarnerin. Reportage über ein Entwicklungshilfeprojekt in Nicaragua, Frankfurter Rundschau vom 22. Januar 2008

 

Volker Schmidt

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Die Sturmwarnerin

In Gefahr und Not greift Doña Francisca in ihrer Hütte zum Funkgerät, um Schlimmeres zu verhindern

Neben der Gottesmutter blinken Dioden. Ein Druck der Jungfrau ist an die Holzbretter gepinnt, daneben hängt ein Kasten mit Lämpchen. Er verbindet ein Funkgerät mit zwei langen Antennen vor der Einraumhütte aus Lehm und Holz. Die Fotozellen auf dem Dach laden die Batterie des Funkgeräts. Das Funkgerät steht in der Hütte von Don Vicente, einem 80-Jährigen mit ortsüblichem Cowboyhut, und Doña Francisca, seiner 58 Jahre alten Frau. Sie hat den Funkkurs belegt.

"Frauen sind hier verlässlicher, sind eher im Haus. Die Männer gehen aufs Feld zur Arbeit, manche trinken, viele emigrieren", sagt Jürgen Schmitz von der Welthungerhilfe. Die WHH fördert das Projekt zur Katastrophenprävention hier in den Bergen im Nordwesten Nicaraguas, der Cordillera de las Brisas. Mittelamerika leidet unter Erdbeben und Vulkanausbrüchen, unter Malaria, Dengue-Fieber und der Chagas-Krankheit, unter tropischen Stürmen, Starkregen, Überschwemmungen und Erdrutschen. Hier setzt das WHH-Projekt an: Das einfache Funkgerät in Donã Franciscas schlichter Hütte ist Teil eines Frühwarnsystems, das in der vergangenen Regenzeit wieder Hunderte Menschenleben gerettet hat.

Natürliche Autoritäten

Das vor sieben Jahren gestartete Projekt setzt nicht auf etablierte Machtstrukturen. Die Dorfgemeinschaft bestimmt, wer zuverlässig und sozial verträglich genug ist, um das Funkgerät zu betreuen: natürliche Autoritäten, angesehene Familien. Außerdem hängt vom Funkempfang ab, in welcher Hütte ein Gerät steht. Die von Doña Francisca hat ein gutes Netz, ist aber sonst nicht ideal, weil der größte Teil des Weilers auf der anderen Seite eines Flusses liegt. Bei mäßigem Niederschlag kann man auch in der Regenzeit noch hindurchwaten, bei starkem Regen wird er unpassierbar. Dann ruft Doña Francisca Informationen hinüber oder wird per Geschrei alarmiert, wenn sie den Krankenwagen rufen soll.

"Mitch" forderte 3000 Tote

Durch den Pferch mit den Kühen führt Doña Francisca zum Niederschlagsmessgerät. Mindestens täglich, bei starkem Regen öfter, funkt sie Messwerte in die Hauptstadt Managua. Wenn von Osten die Hurrikans an die Bergkette stürmen, regnet es hier an einem Tag so viel wie in Deutschland in mehreren Wochen. Dann drohen Fluten wie 1998 bei Hurrikan Mitch, der in Nicaragua mehr als 3000 Todesopfer forderte.

Ein Dutzend Messgeräte und Funkstationen genügen, um auf Basis von Computermodellen und Bedrohungskarten ein Frühwarnsystem zu bilden. Ausländische und nicaraguanische Experten haben es gemeinsam entwickelt, anhand von Messdaten und Luftbildern, aber auch mit den Bewohnern, die vor Ort zeigten, wo Wasser hinfließt, wenn es schüttet. Die Beteiligung hat Folgen: Bei Überschwemmungen müssen gefährdete Dorfbewohner nicht mehr wie früher mit Nachdruck angehalten werden, ihre Häuser zu verlassen; sie vertrauen dem Warnsystem und gehen.

Vom Frühwarnsystem haben Los Encuentros, haben Doña Francisca und ihre Familie wenig, für sie ist die Vorwarnzeit zu kurz. Aber es nutzt den Menschen weiter unten im Tal, in Choluteca und Somotillo etwa. Eine gute Viertelstunde braucht das Wasser von hier oben in den Bergen bis hinunter ins Tal. Dort stehen überall Häuser, wo sie nicht stehen sollten, in Überschwemmungszonen, unter Hängen, die abrutschen können.

Ein junger Mann umarmt Doña Francisca, Evenor Arraus heißt er. Er erzählt, sie habe ihm das Leben gerettet. Als ihm ein Magengeschwür platzte, rief sie über Funk den Krankenwagen. Mehrere schwangere Frauen überlebten schon dank Funk Komplikationen. Und Don Vicente säße ohne Funk nicht mehr vor der Hütte: Zwei Herzinfarkte hat er hinter sich.

Das Gerät ist in der Gegend ohne Telefon und Handy zum wichtigen Knoten im sozialen Netz geworden. Eine Mitfahrgelegenheit zum Markt? Oder nur ein Schwätzchen? Auch Kontakt zu illegal Ausgewanderten stellt Doña Francisca, die noch nie weiter weg war als in Managua, über das große Netz der Funkamateure her. Zu deren Regeln gehört, dass politische, religiöse und ökonomische Themen im Äther tabu sind. "Ich habe jeden Tag mehr Freunde", sagt Doña Francisca.

Evenor Arraus ist Chef der Rettungsbrigade im nahen Arranco, einem weiteren Bestandteil des Präventionsprojekts. Je ein Dutzend junge Männer und auch einige Frauen bilden eine Brigade. Sie erhalten Uniform, Gerät und Grundausbildung, Erste Hilfe, Brandbekämpfung. Im Ernstfall spannen sie Seile zwischen Bäumen über reißende Flüsse, um Verletzte zu bergen, bauen Dämme.

Die Emigration aber reißt Lücken. "Vier, fünf aus meiner Brigade sind schon weg", sagt Arraus. Kaum einer schafft es in die USA, doch auch Costa Rica und Honduras sind schon ein Aufstieg. "Ich bin hier aufgewachsen und so verliebt in mein Dorf, ich könnte nie weggehen", sagt Arraus.

Nicaragua war lange ein Lieblingsland der Entwicklungshelfer. Jedes Windrad, jeder Brunnen, jede Schule trägt das Logo einer Entwicklungshilfeorganisation. "Die Karawane ist weitergezogen", sagt Jürgen Schmitz und meint die Sorte ntwicklungshelfer, die auf kurzfristiger Spendenbereitschaft nach mediengerechten Katastrophen wie Hurrikan Mitch
1998 basieren. Die Helfer, die geblieben sind, schimpfen auf verschwendetes Geld, auf wunderschöne Fertighütten für 1998 obdachlos Gewordene, die leer stehen, weil niemand sich um Infrastruktur, Arbeitsmöglichkeiten und Ausbildung gekümmert hat.

Opfer bringen Spenden

Zu den kurzatmigen Helfern zählen viele Entwicklungspolitiker: Soundso viele Notunterkünfte, soundso viele Katastrophenopfer zählen im Wahlkampf. Ein Dutzend Funkgeräte und Niederschlagsmesser irgendwo in den Bergen? Nebeneffekte von besserer medizinischer Versorgung über Frauenförderung bis zur Stärkung zivilgesellschaftlichen Engaments? Viel zu kompliziert.

Es gilt auch die Gleichung: wenig Opfer, wenig Spenden. Die Regenzeit 2007 ist in Nicaragua eine der extrem ausgeprägten gewesen. Auf Hurrikan Felix folgten ergiebige Starkregen und üble Überschwemmungen. Die Ernte im ohnehin ärmsten Land Zentralamerikas wurde zerstört. Doch in der Region im Nordwesten, deren rund 25 000 Einwohner das Frühwarnsystem schützt, gab es laut WHH-Mann Schmitz keinen Toten.

Beim Kaffee vor Doña Franciscas Hütte ist die Laune gut; das Funkgerät brabbelt. Am Horizont dräut ein Wolkenbruch. Dann wird Doña Francisca wieder durch strömenden Regen zum Niederschlagsmesser müssen.

Weitere Informationen unter:
www.entwicklung-hilft.de