Die Sturmwarnerin
In Gefahr und Not greift Doña
Francisca in ihrer Hütte zum Funkgerät, um Schlimmeres
zu verhindern
Neben der Gottesmutter blinken Dioden. Ein Druck
der Jungfrau ist an die Holzbretter gepinnt, daneben hängt
ein Kasten mit Lämpchen. Er verbindet ein Funkgerät
mit zwei langen Antennen vor der Einraumhütte aus Lehm und
Holz. Die Fotozellen auf dem Dach laden die Batterie des Funkgeräts.
Das Funkgerät steht in der Hütte von Don Vicente, einem
80-Jährigen mit ortsüblichem Cowboyhut, und Doña
Francisca, seiner 58 Jahre alten Frau. Sie hat den Funkkurs belegt.
"Frauen sind hier verlässlicher, sind
eher im Haus. Die Männer gehen aufs Feld zur Arbeit, manche
trinken, viele emigrieren", sagt Jürgen Schmitz von
der Welthungerhilfe. Die WHH fördert das Projekt zur Katastrophenprävention
hier in den Bergen im Nordwesten Nicaraguas, der Cordillera de
las Brisas. Mittelamerika leidet unter Erdbeben und Vulkanausbrüchen,
unter Malaria, Dengue-Fieber und der Chagas-Krankheit, unter tropischen
Stürmen, Starkregen, Überschwemmungen und Erdrutschen.
Hier setzt das WHH-Projekt an: Das einfache Funkgerät in
Donã Franciscas schlichter Hütte ist Teil eines Frühwarnsystems,
das in der vergangenen Regenzeit wieder Hunderte Menschenleben
gerettet hat.
Natürliche Autoritäten
Das vor sieben Jahren gestartete Projekt setzt nicht
auf etablierte Machtstrukturen. Die Dorfgemeinschaft bestimmt,
wer zuverlässig und sozial verträglich genug ist, um
das Funkgerät zu betreuen: natürliche Autoritäten,
angesehene Familien. Außerdem hängt vom Funkempfang
ab, in welcher Hütte ein Gerät steht. Die von Doña
Francisca hat ein gutes Netz, ist aber sonst nicht ideal, weil
der größte Teil des Weilers auf der anderen Seite eines
Flusses liegt. Bei mäßigem Niederschlag kann man auch
in der Regenzeit noch hindurchwaten, bei starkem Regen wird er
unpassierbar. Dann ruft Doña Francisca Informationen hinüber
oder wird per Geschrei alarmiert, wenn sie den Krankenwagen rufen
soll.
"Mitch" forderte 3000 Tote
Durch den Pferch mit den Kühen führt Doña
Francisca zum Niederschlagsmessgerät. Mindestens täglich,
bei starkem Regen öfter, funkt sie Messwerte in die Hauptstadt
Managua. Wenn von Osten die Hurrikans an die Bergkette stürmen,
regnet es hier an einem Tag so viel wie in Deutschland in mehreren
Wochen. Dann drohen Fluten wie 1998 bei Hurrikan Mitch, der in
Nicaragua mehr als 3000 Todesopfer forderte.
Ein Dutzend Messgeräte und Funkstationen genügen,
um auf Basis von Computermodellen und Bedrohungskarten ein Frühwarnsystem
zu bilden. Ausländische und nicaraguanische Experten haben
es gemeinsam entwickelt, anhand von Messdaten und Luftbildern,
aber auch mit den Bewohnern, die vor Ort zeigten, wo Wasser hinfließt,
wenn es schüttet. Die Beteiligung hat Folgen: Bei Überschwemmungen
müssen gefährdete Dorfbewohner nicht mehr wie früher
mit Nachdruck angehalten werden, ihre Häuser zu verlassen;
sie vertrauen dem Warnsystem und gehen.
Vom Frühwarnsystem haben Los Encuentros, haben
Doña Francisca und ihre Familie wenig, für sie ist
die Vorwarnzeit zu kurz. Aber es nutzt den Menschen weiter unten
im Tal, in Choluteca und Somotillo etwa. Eine gute Viertelstunde
braucht das Wasser von hier oben in den Bergen bis hinunter ins
Tal. Dort stehen überall Häuser, wo sie nicht stehen
sollten, in Überschwemmungszonen, unter Hängen, die
abrutschen können.
Ein junger Mann umarmt Doña Francisca, Evenor
Arraus heißt er. Er erzählt, sie habe ihm das Leben
gerettet. Als ihm ein Magengeschwür platzte, rief sie über
Funk den Krankenwagen. Mehrere schwangere Frauen überlebten
schon dank Funk Komplikationen. Und Don Vicente säße
ohne Funk nicht mehr vor der Hütte: Zwei Herzinfarkte hat
er hinter sich.
Das Gerät ist in der Gegend ohne Telefon und
Handy zum wichtigen Knoten im sozialen Netz geworden. Eine Mitfahrgelegenheit
zum Markt? Oder nur ein Schwätzchen? Auch Kontakt zu illegal
Ausgewanderten stellt Doña Francisca, die noch nie weiter
weg war als in Managua, über das große Netz der Funkamateure
her. Zu deren Regeln gehört, dass politische, religiöse
und ökonomische Themen im Äther tabu sind. "Ich
habe jeden Tag mehr Freunde", sagt Doña Francisca.
Evenor Arraus ist Chef der Rettungsbrigade im nahen
Arranco, einem weiteren Bestandteil des Präventionsprojekts.
Je ein Dutzend junge Männer und auch einige Frauen bilden
eine Brigade. Sie erhalten Uniform, Gerät und Grundausbildung,
Erste Hilfe, Brandbekämpfung. Im Ernstfall spannen sie Seile
zwischen Bäumen über reißende Flüsse, um
Verletzte zu bergen, bauen Dämme.
Die Emigration aber reißt Lücken. "Vier,
fünf aus meiner Brigade sind schon weg", sagt Arraus.
Kaum einer schafft es in die USA, doch auch Costa Rica und Honduras
sind schon ein Aufstieg. "Ich bin hier aufgewachsen und so
verliebt in mein Dorf, ich könnte nie weggehen", sagt
Arraus.
Nicaragua war lange ein Lieblingsland der Entwicklungshelfer.
Jedes Windrad, jeder Brunnen, jede Schule trägt das Logo
einer Entwicklungshilfeorganisation. "Die Karawane ist weitergezogen",
sagt Jürgen Schmitz und meint die Sorte ntwicklungshelfer,
die auf kurzfristiger Spendenbereitschaft nach mediengerechten
Katastrophen wie Hurrikan Mitch
1998 basieren. Die Helfer, die geblieben sind, schimpfen auf verschwendetes
Geld, auf wunderschöne Fertighütten für 1998 obdachlos
Gewordene, die leer stehen, weil niemand sich um Infrastruktur,
Arbeitsmöglichkeiten und Ausbildung gekümmert hat.
Opfer bringen Spenden
Zu den kurzatmigen Helfern zählen viele Entwicklungspolitiker:
Soundso viele Notunterkünfte, soundso viele Katastrophenopfer
zählen im Wahlkampf. Ein Dutzend Funkgeräte und Niederschlagsmesser
irgendwo in den Bergen? Nebeneffekte von besserer medizinischer
Versorgung über Frauenförderung bis zur Stärkung
zivilgesellschaftlichen Engaments? Viel zu kompliziert.
Es gilt auch die Gleichung: wenig Opfer, wenig Spenden.
Die Regenzeit 2007 ist in Nicaragua eine der extrem ausgeprägten
gewesen. Auf Hurrikan Felix folgten ergiebige Starkregen und üble
Überschwemmungen. Die Ernte im ohnehin ärmsten Land
Zentralamerikas wurde zerstört. Doch in der Region im Nordwesten,
deren rund 25 000 Einwohner das Frühwarnsystem schützt,
gab es laut WHH-Mann Schmitz keinen Toten.
Beim Kaffee vor Doña Franciscas Hütte
ist die Laune gut; das Funkgerät brabbelt. Am Horizont dräut
ein Wolkenbruch. Dann wird Doña Francisca wieder durch
strömenden Regen zum Niederschlagsmesser müssen.
Weitere Informationen unter:
www.entwicklung-hilft.de
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